„Ich lüge dich nicht an“Ein Interview mit dem Fotografen Stephan Gladieu







„Stephan Gladieu begann seine Karriere 1989 mit der Berichterstattung über Krieg und soziale Fragen und reiste durch Europa, Zentralasien und den Nahen Osten. Der Reporter der ersten Stunde nutzte sehr schnell das Porträt, um die Situation der Menschen auf der ganzen Welt zu veranschaulichen. Heute produziert er immer noch Reportagen und Porträtserien für internationale Magazine, konzentriert sich aber vor allem auf seine persönliche und künstlerische Arbeit mit Porträtserien, deren DNA die Farbe und die strenge Komposition ist. Er mag den ikonischen Charakter eines Bildes, seine Frontalität, seine Lesbarkeit und die Grenze zwischen real und irreal. Seine letzten Serien sind hauptsächlich in Asien und Afrika entstanden. Heute werden die Arbeiten von Stephan Gladieu in führenden Publikationen in Frankreich und international veröffentlicht.” (Quelle: https://www.stephangladieu.fr/bio/)
Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.
Die Drucke für deine aktuelle Ausstellung „Through their Eyes“ sind in der p: berlin laboratories entstanden. Worum geht es in der Ausstellung?
Die Ausstellung umfasst drei verschiedene Projekte. Das erste ist die Serie „Nordkorea“, eine Serie von Porträts, die das Produkt einer intensiven Auseinandersetzung mit den kulturell-politischen Gemeinschaften innerhalb dieses Staates sind. Dann gibt es „Egungun“, für das ich zum Volk der Yoruba in die Region zwischen Benin und Nigeria gereist bin und die Rituale des Todes und der Ahnen erlebt habe. Und das letzte Projekt war „Homo Detritus“, über das Kunstkollektiv „ daku, ya la vie est belle“ in Kinshasa. Das sind Künstler:innen, die aus dem Müll der Stadt Kostüme und Masken herstellen. Alle meine jüngsten Serien basieren auf einer Art von Porträt, die ich Spiegelporträts nenne. Bei diesen Porträts schauen die Leute immer zu mir oder in mein Objektiv. Wenn du also vor den Bildern stehst, schauen sie dich an. Das hat die Beziehung zu den Bildern für mich völlig verändert, denn es ist eine Face-to-Face-Situation. Außerdem spiele ich mit der ikonischen Darstellung und Bedeutung der Bilder.
Was meinst du, wenn du von Ikonen sprichst?
Ich spreche nicht von dem religiösen Zweck traditioneller Ikonen, sondern eher von der Konzeption einer Ikone als Bild. Das Motiv steht bei diesen Bildern im Mittelpunkt und es schaut einen immer direkt an. Als Bild sind Ikonen sehr einfach, farbenfroh und leicht zu verstehen. Sie wurden geschaffen, um die Aufmerksamkeit der ungebildeten Menschen zu wecken und eine religiöse Botschaft zu vermitteln, die sie leicht verstehen und an die sie glauben können. Es war also wirklich ein Mittel der Kommunikation. Ich spreche nicht darüber, was eine Ikone in Bezug auf die Spiritualität darstellt, ich verwende nur die Techniken und den Bildprozess der Ikonen und setze sie in einen neuen Kontext. Das hat es schon früher gegeben: Zunächst wurden Ikonen verwendet, um eine religiöse Botschaft zu vermitteln, dann wurden sie von den Kommunisten und den Nazis benutzt, um eine politische Botschaft zu übermitteln. Und nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten die Amerikaner sie, um uns durch Marketing und Werbung Produkte zu verkaufen. Trotz all dieser Bedeutungsänderungen sind die Grundregeln für Ikonen gleichgeblieben. Es sind sehr einfache Bilder und das Motiv schaut den Betrachter immer direkt an, von Angesicht zu Angesicht.
Du kommst aus der Dokumentarfotografie. Inwieweit beeinflusst das die Art und Weise, wie du jetzt Porträts machst?
Ich lasse mich von der Mischung aus Dokumentation und Ästhetik inspirieren, das ist für mich sehr wichtig. Was man auf meinen Bildern sieht, ist also immer echt: Das Motiv ist echt, der Hintergrund ist echt. Wenn ich ein Porträt mache, habe ich die Person normalerweise sehr nah an dem Ort getroffen, den ich als Hintergrund gewählt habe, vielleicht 60 oder 70 Meter. Inspiriert wurde ich von dem deutschen Fotografen August Sander, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts arbeitete und für die Porträtfotografie sehr wichtig war. Er war immer auf der Suche nach der deutschen Identität. Er hatte eine interessante Art, sich den Menschen zu nähern und das inspiriert mich. Der Unterschied ist, dass ich Farbfilm verwende. Ich würde gerne sagen, dass ich ein Kolorist bin, weil ich wirklich gerne mit Farben spiele. Und dafür benutze ich auch Blitzgeräte. Ich bin eigentlich ein Straßenfotograf, der früher in einem mobilen Studio gearbeitet hat, und eines Tages beschloss ich, das tragbare Studio mit auf die Straße zu nehmen.
Gibt es so etwas wie eine rote Linie, die in allen deinen Arbeiten erkennbar ist? Was willst du mit deiner Fotografie vermitteln?
Ich bearbeite meine Bilder nicht wirklich. Der Hintergrund ist der Hintergrund, den ich gefunden habe, die Menschen, die du siehst, sind die Menschen, die ich getroffen habe. Ich wähle die Verbindung, die Beziehung zwischen den Menschen, die ich treffe, und dem Hintergrund, das ist meine einzige Einmischung. Und wie ich schon sagte, ist der Hintergrund nie weiter als hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem ich die Menschen getroffen habe. Alles, was du auf den Bildern siehst, ist also real. Was die ästhetischen Regeln angeht, die ich befolge, so mag ich es normalerweise, nicht mehr als drei Farben in einem Bild zu haben, und ich achte sehr darauf, wie ich meine Bilder einrahme. Es gibt also einen bestimmten Prozess, an den ich mich halte, und das ist wichtig für mich, da ich aus der Dokumentarfotografie und dem Fotojournalismus komme.




Warum hast du beschlossen, dich der künstlerischen Fotografie zuzuwenden?
Ich hatte die Art und Weise satt, wie unsere Bilder und ihre Symbolik verwendet werden. Meine Arbeit als Künstler ist für mich ein Weg, die Macht der Symbolik zurückzuerobern und zu kontrollieren, was ich in die Bilder setze. Ich wähle das Thema, ich entwerfe das Bild und ich stelle es dir vor die Nase. Und ich lüge dich nicht an: Man sieht, dass ich da bin, man sieht, wie ich das Licht benutze und es ist sehr direkt. Gleichzeitig spiele ich mit dem Licht und das erzeugt ein Gefühl, bei dem man sich fragt, ob es echt ist oder nicht. Man weiß nicht, ob ich das Bild vor einem Greenscreen oder live vor Ort aufgenommen habe; ob ich das Material in Photoshop bearbeitet und zwei Bilder gemischt habe oder nicht. Ich spiele gerne mit diesem Verhältnis zwischen real und irreal, weil man sich dann fragt: Was ist da? Wo ist die Realität? Was du siehst, ist meine Realität zu einem bestimmten Zeitpunkt, als ich das Bild aufgenommen habe.
Einige der Drucke für deine aktuelle Ausstellung in der Joshua Tree Gallery of Contemporary Art (USA) entstanden in den p: berlin laboratories in Berlin. Wie wichtig ist eine solche Infrastruktur und ihre Verfügbarkeit für dich und deinen Arbeitsprozess?
Es ist sehr wichtig für mich, weil ich die ganze Arbeit, den fotografischen Prozess, den meine Bilder durchlaufen, teile. Ich bin der erste, der in diesem Prozess agiert, wenn ich das Bild vor Ort mit meinen Assistenten aufnehme. Ich wähle das Motiv, den Ort, die Beleuchtung usw.
Dann gibt es die zweite Phase, die Postproduktion. Ich arbeite mit meiner guten Freundin Camille zusammen, die viel jünger ist als ich. Es ist sehr interessant, denn sie ist nie mit mir vor Ort, aber sie kennt mich sehr gut. Wenn ich eine Idee für ein neues Projekt habe, spreche ich immer mit ihr darüber und sie macht mir Vorschläge, wie ich es angehen kann. Sie hilft mir zum Beispiel oft, die richtigen Farben zu finden, denn mit jedem neuen Projekt gibt es eine neue Tonalität.
Und dann gibt es natürlich noch die dritte Phase eines jeden Projekts, den Druck. Das ist einer der wichtigsten Schritte, denn hier wird die Arbeit materialisiert. Deshalb ist es für mich sehr wichtig, Leute zu haben, die meine Arbeitsweise verstehen und die geleistete Arbeit lesen können. Ich bin sehr sensibel, was das angeht. Ich mache mir viele Gedanken über die Wahl des Papiers, die letzten Korrekturen und darüber, wie die Drucke letztendlich aussehen.




Deine Ausstellung „Through their Eyes“ in der Joshua Tree Gallery of Contemporary Art läuft noch bis November 2022 – was wird dein nächstes Projekt sein, was können unsere Leser:innen in Zukunft von dir erwarten?
Zum ersten Mal mache ich ein großes Projekt in Frankreich. Ich mache eine Serie von Porträts von Franzosen im Urlaub. Der Bezug zur französischen Identität ist sehr stark, die Franzosen legen großen Wert auf soziale Rechte und Arbeitnehmerrechte und wir waren das erste Volk, das unter Napoleon eine bezahlte Freistellung von der Arbeit eingeführt hat. Jeder wird also dafür bezahlt, dass er einen Teil des Jahres nicht arbeitet, um seine Familie zu besuchen und sich einfach zu entspannen. Das ist eine sehr französische Sache, denke ich. Ich fahre also von Küste zu Küste, besuche viele typische Urlaubsorte und werde die Menschen in ihrer Urlaubszeit porträtieren. Das Projekt wird 2024 in der französischen Bibliothek ausgestellt, und es wird auch ein Buch geben. Es gibt also eine Menge zu tun.
Mehr Informationen unter:
www.artco-gallery.com
www.stephangladieu.fr