Poesie und ZweifelAbschlussausstellung der Meisterklassevon Ludwig Rauch
Alles könnte ganz anders sein: Mit dieser Erkenntnis eröffnet und schließt die aktuelle Meisterklasse von Ludwig Rauch. In einer Gegenwart voller Widersprüchlichkeit und Gegensätze, in der Maschinen zu handeln lernen wie Menschen, ist Kunst sowohl Versicherung als auch Verunsicherung. Was sehen wir und was ist da wirklich? Die sechs Künstler:innen der aktuellen Meisterklasse laden zu Perspektivwechseln ein und zeigen Arbeiten, die von Poesie, genauem Hinsehen und dem Mut zur Ambivalenz leben. Gemeinsam mit dem Fotografen, Künstler und Ostkreuzschule-Dozenten Ludwig Rauch entwickelten sie ihre künstlerischen Positionen. In intensiven Diskussionen und Auseinandersetzungen mit ihren ganz unterschiedlichen Themen gelang es den Künstler:innen, skeptisch und dennoch fröhlich zu bleiben. Umso spannender sind die Arbeiten, die dabei entstanden sind und die nun unter dem Titel „Never be sure“ noch bis zum 31. August in der Galerie im Stammelbach-Speicher gezeigt werden.
Weibliche Perspektiven und soziale Räume
Sabine Dobinsky führt uns in zwei Welten, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten. In ihrer Serie Wer wenn nicht wir feiert sie die Kraft von Frauengemeinschaften. Sie zeigt uns Momente des Miteinanders, des Lachens, des Teilens – Momente, die uns daran erinnern, dass Gemeinschaft nicht nur ein Wort ist, sondern eine gelebte Erfahrung. Diese Arbeiten sind geprägt von einer tiefen Wärme und einem feinen Humor, von Gespür für die Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen, sie erinnern in ihrer berauschenden Ästhetik an Gemälde vergangener Zeiten.
In No Shades Unseen wendet sie ihren Blick nach Tansania, zu jungen Frauen und Mädchen mit Albinismus. Ihre Porträts entstanden in der Irente School for the Blind, einer inklusiven Schule in den Usambara-Bergen. Diese Porträts sind ein Zeugnis von Stärke und Verletzlichkeit, von Stolz und Lebensfreude. Sie zeigen uns, dass Schönheit in der Vielfalt liegt, in der Einzigartigkeit jedes Einzelnen. Besonders berührend ist die Tatsache, dass jedes Mädchen sein Porträt mit ihrer Unterschrift versehen hat – ein Akt der Selbstbestimmung und des Stolzes.
Sabine Dobinsky, geboren in Hamburg, studierte Humanmedizin und ist heute als klinische Mikrobiologin in Berlin tätig. Die Fotografie begleitet sie seit vielen Jahren als künstlerische Ausdrucksform. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, darunter ihre Arbeit „Portrait einer Dame“ im Kunstraum Potsdam und die Arbeit „Im Bade“ in der Ausstellung „Social and Distance“ im Rahmen des European Month of Photography in Berlin. 2022 wurde Sabine Dobinsky mit dem Lotto-Kunstpreis des Landes Brandenburg ausgezeichnet. Ihre Werke zeugen von einem feinen Humor und einer tiefen Empathie.
Zwischen Verfall und Erinnerung: Michael Görners vielschichtige Bildwelten
Michael Görner nimmt uns mit auf eine Reise durch Zeit und Raum. In icarus begegnen wir einem verlassenen Restaurant in den Schweizer Hochalpen, einem Ort, der von den Träumen und dem Scheitern des Menschen erzählt. Die Spiegelungen in den zerbrochenen Fenstern werden zu einer Metapher für die Vergänglichkeit und die Schönheit des Augenblicks. Görners Arbeiten sind geprägt von seiner Auseinandersetzung mit der Natur und der Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt.
In Anita tanzt folgt er der legendären Tänzerin Anita Berber, einem Symbol der Weimarer Zeit. Mit einem mobilen Scanner erfasst er die Spuren ihres Lebens und schafft abstrakte Arbeiten, die uns die Energie und die Exzesse dieser Epoche spüren lassen. Die Linienführung seiner Werke erinnert an expressionistische Gemälde und lebt von der Verbindung zur Kunstgeschichte.
Michael Görner wurde in Idar Oberstein geboren und begann seine künstlerische Laufbahn nach einer Karriere als Pressefotograf und Journalist. Seine Arbeiten wurden international ausgestellt, darunter bei den Trieste Photo Days in Italien und der Boomer Gallery in London. Seine Serie icarus wurde bei den Tokyo International Photo Awards ausgezeichnet. Görners Stil bewegt sich zwischen dokumentarischer und konzeptioneller Fotografie und ist geprägt von seinem Gespür für Emotionen und gesellschaftliche Themen.
Morbide Schönheit und poetische Spiegelungen
Sebastian Schmidt spielt mit der Erinnerung und der Vergänglichkeit. In The Past is Never Dead kombiniert er Familienbilder aus den 60er-Jahren mit Landschaftsaufnahmen und bearbeitet sie manuell, um die Fragilität und die Hinterlassenschaften der Vergangenheit sichtbar zu machen. Diese Arbeiten sind wie Fenster in eine andere Zeit, eine andere Realität, und laden uns ein, über die Bedeutung von Erinnerung nachzudenken. Vergangenheit ist nicht nur das, was war – sie ist das, was bleibt. Sie prägt unsere Gegenwart, sie formt unsere Entscheidungen, sie ist ein ständiger Begleiter. In den Bildern Schmidts sehen wir die Spuren des Lebens: das Jungsein und das Altwerden, die guten und die schweren Zeiten, die uns zu dem machen, was wir sind. Und während Menschen altern, tun es Landschaften langsamer, leiser, fast unbemerkt – und doch erzählen sie Geschichten, die Jahrhunderte überdauern.
In Vollmond hingegen entführt er uns in eine poetische Welt, in der Fotografie und Lyrik miteinander verschmelzen. Die Kombination aus Transparentpapier und Gedichten schafft eine einzigartige Atmosphäre, die uns zum Träumen einlädt. Schmidts Werke sind geprägt von einer tiefen Sensibilität und einer Sehnsucht nach den Zwischentönen des Lebens.
Sebastian Schmidt, geboren in Berlin, lebt und arbeitet in Brandenburg. Nach Stationen in der Werbebranche widmet er sich seit einigen Jahren der künstlerischen Fotografie. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, darunter die Arbeit „Mutterliebe“ in Kleinmachnow und „Wo ist hier? Wann ist jetzt?“ im Kunstquartier Bethanien. Seine Fotografien sind Ausdruck einer fast unwirklichen Balance zwischen Dokumentation und Poesie.
Natur in neuem Licht:
Nadja Rentzschs lenkt unseren Blick auf die Natur – auf das, was oft übersehen wird. In Skin of Nature zeigt sie uns die Rinde eines Baumes als kunstvolle Haut, die Geschichten erzählt und schützt. Haut ist nicht nur eine Hülle, sie ist ein Sinnesorgan, das uns spüren lässt, dasuns vom Außen abgrenzt und doch mit ihm verbindet. Sie bewahrt und schützt, sie erzählt von Verletzungen und Heilung, von Wachstum und Alter. Rentzschs Arbeiten lassen uns die Rinde eines Baumes wie ein Tagebuch lesen, in dem die Jahreszeiten ihre Spuren hinterlassen haben. Sie lädt uns ein, darüber nachzudenken, wie das Innen und das Außen zusammenwirken, wie das Sichtbare und das Unsichtbare einander bedingen.
In Leftovers inszeniert sie Blüten, Samen und Blätter, die achtlos liegen gelassen wurden, und offenbart ihre verborgene Schönheit. Diese Samen, die oft übersehen werden, sind der Ursprung von Neuem. Sie tragen das Potenzial für Wälder, für Blumenmeere, für Leben in sich. Rentzsch erinnert uns daran, dass es oft die kleinen Dinge sind, die Großes bewirken, dass aus dem, was wir übersehen, eine ganze Welt entstehen kann. Ihre Werke sind wie stille Meditationen über das Leben, den Kreislauf der Natur und die Kunst des genauen Hinsehens.
Nadja Rentzsch studierte Fotografie in Berlin und hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den 1. Platz bei den ND Awards 2024. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt, unter anderem in der ARTBOX Gallery in Zürich und im Kunstraum Potsdamsowie verschiedenen Orten in Berlin. Ihre Werke sind Ausdruck ihrer Achtsamkeit und Liebe zur Natur, die in jedem Bild spürbar wird.
Präsenz und Respekt im Porträt: Beate Wätzel
Beate Wätzel widmet sich in ihrer Serie DA.HEIM Menschen, die oft am Rande der Gesellschaft stehen – Bewohner eines Heims für körperlich und geistig eingeschränkte Erwachsene. Mit großer Achtsamkeit und Präsenz nähert sie sich ihren Porträtierten, gibt ihnen Raum und Stimme. Ihre Bilder sind keine Dokumentationen, sondern Begegnungen. Sie laden uns ein, hinzusehen, zuzuhören, mitzufühlen.
Wätzel zeigt uns, dass Gemeinschaft nicht nur ein abstraktes Konzept ist, sondern eine Kraft, die stützt und hält. Ihre Porträts erzählen von Menschen, deren Leben anders ist, aber nicht weniger intensiv. Sie zeigen, dass Glück, Freude des Lebens nicht vom Grad einer Behinderung abhängen. Normalität ist das, was ist – und die Kraft von Gemeinschaft liegt auch in ihrer Verletzlichkeit. Die Menschen in ihren Bildern strahlen Würde aus und Stärke, die uns ahnen lässt, dass Diversität keine Abweichung ist, nicht weniger, sondern mehr.
Beate Wätzel ist eine Künstlerin, die mit leiser Intensität und großer Aufmerksamkeit für das Menschliche arbeitet. Ihre Werke sind Begegnungen: mit dem Gegenüber, dem Raum, dem Licht – und mit der Kamera als vermittelndem Instrument. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in der Glasgow Gallery of Photography und auf der Prague International Art Exhibition sowie in Berlin und Potsdam gezeigt.
Zwischen Sinnlichkeit und Rätselhaftigkeit: Kathrin von Eye
Kathrin von Eye erforscht in Tender Moments die zarten, inneren Momente des Seins, für die es keine Worte gibt, und nur manchmal Bilder. Diese Arbeiten sind wie ein Seelenspiegel, leise flüsternd, tief und leicht zugleich, wie ein Aufruf zur Stille, die uns staunen lässt, was wir auf einmal sehen – oder zu sehen glauben.
In A Kind of Secret fängt sie die Poesie der Nacht ein, die Brüche zwischen Licht und Dunkelheit, die Geschichten, die in den Schatten verborgen liegen. Es sind analoge Fotografien, die für jeweils eine Farbe eine Party schmeissen, mit Formen und Dingen, die wirken, als wären sie einem Traum entsprungen, und doch in der Wirklichkeit wohnen. Die Arbeiten spielen mit der Grenze zwischen dem Greifbaren und dem Fantastischen. Sie sind wie ein Moment, in dem man die Augen zusammenkneift, ein bisschen blinzelt und plötzlich sieht alles ganz anders aus.
Kathrin von Eye, geboren 1972 in Jena, studierte Grafikdesign und arbeitet seit 2012 als freiberufliche Künstlerin in Potsdam. Ihre Arbeiten wurden an vielen Orten ausgestellt, darunter in der Fotogalerie Potsdam, im Kunstraum Sans titre e.V. und im Projektraum & Co in Berlin. Ihre Fotografien sind geprägt von einer tiefen Emotionalität und einer einzigartigen poetischen Bildsprache.
Die Meisterklasse Ludwig Rauch existiert seit 2019 und bietet fortlaufend sechs fortgeschrittenen Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit zu einem intensiven Diskurs über ihre Fotografie und der Weiterentwicklung ihrer Arbeit. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt im Bereich der künstlerischen Fotografie, der Bildenden Kunst.